Interview mit dem nordrhein-westfälischen Justizvollzugsbeauftragten Professor Dr. Michael Walter über seine Aufgaben und deren Umsetzung

BJ: Der Ombudsmann für den Strafvollzug in NRW war etwas Neues, als er vor 4 oder 5 Jahren geschaffen wurde - auch unter dem Eindruck der Ereignisse in der JVA Siegburg, wo ein junger Mann von Zellengenossen aufgehängt worden ist. Der Ombudsmann war damals ausschließlich zuständig für Einzelfälle - Eingaben von Gefangenen, Familienangehörigen, Mitarbeitern der JVA. Jetzt heißt das Amt „Justizvollzugsbeauftragter“: was hat sich da außer der Bezeichnung geändert?

Walter: Die Bezeichnung hat sich geändert, weil das Aufgabengebiet erweitert worden ist. Der Justizvollzugsbeauftragte (JVB) ist Ombudsmann, außerdem aber auch Berater des Justizministeriums und als solcher aufgerufen, an der konzeptionellen Fortentwicklung des Strafvollzugs mitzuwirken.

Zunächst bin ich – wie mein Vorgänger – zuständig für Eingaben von „allen am Vollzug Beteiligten“. Diese Formulierung umfasst Gefangene, Bedienstete, Angehörige Gefangener, ehrenamtliche Mitarbeiter und Sonstige. An den JVB wenden können sich ferner Gremien und Gremienmitglieder, also etwa Mitglieder eines Anstaltsbeirats oder die Gefangenenmitverantwortung einer Justizvollzugsanstalt (JVA). Der Begriff der Eingaben ist ebenfalls sehr weit geschnitten, erfasst werden „Beschwerden, Anregungen, Beobachtungen und Hinweise“, die nicht nur eine konkrete JVA, sondern auch den Vollzug in seiner Gesamtheit meinen können.

Bei den Eingaben habe ich mich um Eingrenzungen bemüht. Vermeiden möchte ich insbesondere Doppelbefassungen, dass beispielsweise gleichzeitig der Petitionsausschuss des Landtages tätig oder im Wege des schriftlichen Antrags ein Vollstreckungsgericht in der Sache bemüht wird. Allerdings fragen wir nicht von uns aus nach, sondern berücksichtigen das jeweilige Vorbringen. Wenn z.B. ein Gefangener schreibt, er habe die Entscheidung einer bestimmten Rechtsfrage, etwa zur Höhe der Arbeitsvergütung, durch die Vollstreckungskammer des für die JVA zuständigen Landgerichts beantragt, dann bekommt er den Rat, zunächst einmal diese rechtliche Klärung abzuwarten. Entsprechendes gilt für Gespräche mit dem Petitionsausschuss. Der JVB ist nicht dazu geschaffen, mit diesen Beschwerdeinstanzen in Konkurrenz zu treten. Freilich wird keiner im Regen stehen gelassen. Selbst wenn ein Aufgreifen einer Angelegenheit seitens des JVB in einer bestimmten Situation nicht sinnvoll erscheint, erfolgt stets eine klärende Antwort, und der Betreffende erhält gegebenenfalls Hinweise, wie er – oder sie – das jeweilige Anliegen weiterverfolgen kann.

Mein besonderes Interesse gilt Fällen, in denen strukturelle Probleme erkennbar werden, z. B. beklagt wird, dass Gefangene seit Monaten nur „herumhängen“, weder Arbeit haben noch therapeutisch gefordert werden. Denn hier drängt sich der Eindruck auf, dass die gesetzlichen Zielvorgaben verfehlt werden. Der Ansatz ist ein komplementärer: Der JVB ist dort gefordert, wo sonst Felder unbeackert bleiben und in Zukunft mehr geschehen muss. Man kann Eingaben, die auf entsprechende Defizite verweisen, als Alarmzeichen begreifen, die über die Einzelproblematik hinausweisen.

BJ: Ihr Aufgabenbereich ist also gegenüber dem des Ombudsmannes erheblich erweitert worden, Sie geben über den Einzelfall hinaus dem Minister Rückmeldung, an welchen Stellen es hakt und Verbesserungsbedarf besteht …

Walter: Ja, solche Problembereiche und Defizite treten angesichts eingefahrener Praktiken und Sichtweisen nicht immer deutlich hervor. Sie sind als erstes bewusst zu machen. Ein gutes Beispiel bildet die Berücksichtigung des Opferaspekts. Obwohl sich Opfer auch nach der Verurteilung und Inhaftierung des Täters häufig hilflos und schutzbedürftig fühlen, nimmt sie der Vollzug bislang kaum oder nur vereinzelt wahr. Die Frage, welche Bedeutung der Blick auf das Opfer für die Gestaltung des Vollzuges hat oder haben kann, wird bislang weitgehend verdrängt. Der Vollzug sieht sich schon jetzt schnell überfordert und außerstande, noch eine weitere Dimension in seine Arbeit einzubeziehen. Und genau hier liegt der Punkt, an dem der JVB – „von außen“ kommend – sagen muss, dass diese Verkürzung nicht hinnehmbar ist: Die konsequente und systematische Entwicklung einer opferbezogenen Vollzugsgestaltung ist überfällig.

BJ: Meinen Sie die Opfer der konkreten Straftaten, für die ein Gefangener einsitzt?

Walter: Um die Möglichkeiten einer opferbezogenen Vollzugsgestaltung zu erkennen und auszuloten, brauchen wir einen umfassenden Opferbegriff, der sowohl frühere Tatopfer als auch die Menschen einschließt, die von Lockerungen und der späteren Aufnahme des Entlassenen in den sozialen Empfangsraum betroffen sind. Es kann sich ebenso um einen alten „Feind“ des Gefangenen handeln wie um die Kinder der Lebensgefährtin, die er erst in der Haft kennen gelernt hat. Der Blick richtet sich auf die ausgleichsbedürftige vergangene Tat und zugleich auf die Regelung zukünftiger Beziehungen. Hier gilt es vor allem, Maßnahmen zu treffen, die eventuell Gefährdeten, etwa einer geschiedenen Ehefrau, Schutz bieten.

Wir brauchen nicht bei Null zu beginnen, nur scheinen ein systematisches Vorgehen und entsprechende Normen nötig, die dazu anleiten. Die Arbeit beginnt mit der Vollzugsplanung und der Klärung, ob ein oder mehrere Opfer zu berücksichtigen sind, setzt sich in der Tatauseinandersetzung und Behandlung fort und findet bei der Gestaltung der schrittweisen Integration in die künftige Lebenswirklichkeit ihren Abschluss. Mir leuchtet nicht ein, warum wir den Gefangenen auf die Freiheit vorbereiten, jedoch die konkreten Menschen, die mit dem Gefangenen nach der Entlassung zu tun haben werden, mit ihren Schwierigkeiten und eventuellen Hoffnungen und Ängsten allein lassen. Die Notwendigkeit, hier „nachzubessern“, erkennt (fast) jeder unbefangene Betrachter. Blind sind am ehesten manche Experten. Ein Anstaltsleiter äußerte gar die Befürchtung, dass wenn die Gefährdungen im Lebensumfeld in den Blick genommen würden, kaum noch Lockerungen möglich wären, weil wir dann zu viel wüssten.

BJ: Wir hatten schon vor vielen Jahren das Thema Therapie für Missbrauchstäter während der Haft. Das ist ja die klassische Gruppe, bei denen immer die Sorge besteht, dass sie sich an den Kindern der nächsten Lebensgefährtin vergreifen, wenn sie schon nicht  in die vorherige Familie zurückkommen.

Walter: In der Tat werden bei dieser Sachverhaltskonstellation die größten Sorgen artikuliert. Aber man wird zwischen konkret Betroffenen und denen unterscheiden müssen, die viel Privatfernsehen schauen und sich an bestimmten Boulevardblättern orientieren, möglicherweise aber die meisten –  und zudem unrealistische –  Ängste aufbauen. Der Opferbegriff, den die opferbezogene Vollzugsgestaltung meint, bezieht sich stets auf konkrete und grundsätzlich regelbare Gefahren, nicht auf die Opfer einer medialen Stimmungsmache.

BJ: Wie soll das vor sich gehen? Bringen Sie die Opfer mit den Tätern an einen Tisch?

Walter: Wir wissen inzwischen, dass der Opferbezug während des gesamten Vollzugsverlaufs herzustellen ist, also von der Vollzugsplanung bis zur sozialen Integration nach der Haft. Was wir bislang nicht näher kennen, sind die Möglichkeiten und Wege, wie die verschiedenen das Opfer begünstigenden Instrumente ausgeformt und am wirkungsvollsten eingesetzt werden können. Wir haben im Vollzug beispielsweise noch wenig Erfahrungen mit den unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs, hingegen mehr Erfahrungen mit Opferempathie vermittelnden Vorgehensweisen. Andererseits wissen wir in Deutschland auch noch wenig über die Einbeziehung der Opferfamilien und ihrer unterstützenden Potentiale. Hier entsteht die Aufgabe, das Leistbare exemplarisch zu erkunden und dann praktisch umzusetzen. Wir können in diesen Beziehungen von den Erfahrungen in anderen Ländern lernen, wobei wir, wenn wir nur an Belgien denken, gar nicht so weit schauen müssen.

Erfreulich ist bei allem die Tatsache, dass dieser opferbezogene Ansatz vom Justizminister nachhaltig unterstützt worden ist, zugleich jedoch ebenfalls von den anderen parlamentarischen Parteien und von der Vollzugskommission (als einer Unterkommission des Rechtsausschusses) befürwortet wird.

BJ: Ich habe den Eindruck, dass sich Ihr Aufgabenbereich wegentwickelt von der Tätigkeit des Ombudsmannes als Freund und Helfer für Einzelfälle in Richtung auf konzeptionelle Arbeit, wo in unserem Justizvollzug etwas verbessert werden sollte.

Walter: Das eine schließt das andere keineswegs aus. Die Hilfe im Einzelfall kann durchaus wichtig sein. Nur möchte ich dabei nicht stehen bleiben. Die Chance zu strukturellen Verbesserungen sollte da, wo sie sich bei realistischer Sicht bietet, genutzt werden.

BJ: Lassen Sie uns über Beispiele sprechen, mit denen der Justizvollzugsbeauftragte oder Ombudsmann befasst wird. Mir sind in den Berichten Ihres Vorgängers ein paar kleine Themen aufgefallen, zum Beispiel die Spezifikation zulässiger Geräte wie Schreibtischlampen, die in jeder JVA anders ist, so dass der Häftling die in einem Laden in der JVA A für teures Geld gekaufte Lampe bei Verlegung  in die JVA B dort nicht benutzen darf sondern dort wieder eine neue kaufen muss, die aber  in JVA A oder C verboten wäre…

Walter: Das Thema ist nach wie vor aktuell, es wird auch in meinem Tätigkeitsbericht für das vergangene Jahr auftauchen. Entsprechende Probleme treten im Übrigen ebenfalls bei Wasserkochern und sogar bei Fernsehgeräten auf, die ja die Gefangenen nun wirklich viel Geld kosten. Das JM plant inzwischen, vom Kaufen wegzukommen und in der jeweiligen JVA die Miete der dort zulässigen Geräte zu niedrigem Zins anzubieten. Das klingt vernünftig, ist aber bislang Zukunftsmusik.

Vielleicht noch gravierender sind die Engpässe beim Telefonieren. In den einzelnen Anstalten gelten unterschiedliche Regeln. Während in manchen Gefängnissen Kartentelefone existieren, in anderen bestimmte frei geschaltete Nummern angewählt werden können, besteht in wiederum anderen Anstalten lediglich die Möglichkeit, in dringenden Fällen das Stationstelefon der Aufsichtsbediensteten  (vom Allgemeinen Vollzugsdienst, AVD) mitzubenutzen. Die Gründe für diese fragwürdige Vielfalt sind komplex. Die Regelungen hängen aber nicht allein von Sicherheitserwägungen ab und lassen sich teilweise nur schwer vermitteln. Besonders bedauerlich ist beispielsweise, dass in der neuen Jugendanstalt in Wuppertal Ronsdorf, die schon mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer erreichbar ist, auch noch das Telefonieren erheblichen Einschränkungen unterliegt. Auch die Rechtsprechung des OLG Hamm hat noch – unbeabsichtigt – zu den Restriktionen beigetragen. Weil die Zustimmung der Gefangenen zu bestimmten Mithör-Kontrollen für unwirksam angesehen wurde, eine ausreichende gesetzliche Eingriffsgrundlage insoweit jedoch nicht besteht, wurden die Telefoniermöglichkeiten entsprechend schmaler. Um den Status quo nicht allzu sehr zu verschlechtern, läuft derzeit manches unter der Flagge eines Modellversuchs.

BJ: Wie sieht es mit Methadon-Vergabe aus? Auch dort scheint es sehr unterschiedliche Handhabung in verschiedenen Anstalten zu geben, habe ich dem Bericht 2011 entnommen. Teilweise werde mit dem Ziel der Drogenfreiheit heruntersubstituiert, teilweise erhaltend substituiert – je nach Anstaltsarzt. Und wer verlegt wird, kann sich nicht darauf verlassen, dass seine Substitution erhalten bleibt.

Walter: Generell kann ich das nicht bestätigen. Wir hatten keine Eingaben, die derartige Differenzen schilderten oder beanstandeten. Allerdings erinnere ich einen Fall, in dem einem Gefangener, der einen Hungerstreik begonnen hatte, das jedenfalls verkündet hatte, vom Anstaltsarzt mitgeteilt worden war, er werde wegen der zu erwartenden Abnahme seines Körpergewichts dann auch weniger Methadon erhalten. Diese Ankündigung hatte zur Beendigung des Hungerstreiks geführt, freilich unter Protest gegen die empfundene Nötigung. Die Angelegenheit ließ sich indessen im Ergebnis einvernehmlich schlichten. Probleme bei der Substitution treten mitunter während des Übergangs in die Freiheit auf, falls der Gefangene über keine gültige Krankenversicherungskarte verfügt. Er kann dann Schwierigkeiten haben, draußen weiter versorgt zu werden. Die Anstalten sind jedoch bemüht, hier Vorsorge zu treffen, etwa über eine Kooperation mit den Gesundheitsämtern. Schließlich gab es vereinzelt Beschwerden von AVD-Bediensteten, die sich – im geschlossenen Vollzug – mit der Begleitung der Abhängigen zur Ausgabestelle und zurück überfordert sahen. Doch organisatorische Konflikte dieser Art dürften mittlerweile behoben sein.

BJ: Welche Schwerpunkte haben die Beschwerden?

Walter: Die Eingaben spiegeln das gesamte Spektrum des „vollzuglichen Lebens“. Versucht man eine thematische Bündelung, können Schwerpunkte bei der Behandlung (insbes. Drogen- und Gewalttherapie) und beim alltäglichen Umgang (Konflikte mit Bediensteten) kaum verwundern. Für uns eher überraschend waren die vielen Eingaben, in denen Verlegungen in andere Anstalten gewünscht wurden. Begründet werden entsprechende Anliegen meist mit der größeren Wohnortnähe und besseren Besuchsmöglichkeiten für Angehörige. Auch bessere Ausbildungsmöglichkeiten werden genannt. Insgesamt handelt es sich dabei um „offiziell anerkannte“ Gründe. Welche Bedeutung andere Gründe haben, wissen wir nicht.

Ein zahlenmäßig kleinerer, aber in der Sache besonders brisanter Problembereich ist der der ärztlichen Versorgung. Hier tauchen bestimmte Ärztenamen immer wieder auf, andere hingegen nie. Stukturell bedingt sind die Konflikte, die mit der – im Vollzug ja nicht gegebenen – freien Arztwahl zu tun haben. Vollzugsärzte sehen zudem nur eine bestimmte Klientel, meist junge Männer, oft drogenabhängig und sozial randständig. Während sie den Gefangenen  eher kritisch begegnen, ist das bei Vertragsärzten „von draußen“, die lediglich an bestimmten Tagen Sprechstunden in der JVA abhalten, nicht in gleichem Maße der Fall. Wenn letztere dann großzügig die von den Gefangenen gewünschten Schmerz- oder Schlafmittel verordnen, kann das schon einmal zu Konflikten mit den Anstaltsärzten führen. Den Anstaltsärzten wird von den Gefangenen nicht selten eine negative Voreingenommenheit und Ignoranz vorgeworfen, sie nähmen die berichteten Beschwerden nicht ernst, hielten ihre Patienten für Simulanten. Anstaltsärzte klagen über ungehöriges und extrem unfreundliches Verhalten ihnen gegenüber. Obwohl seitens der Gefangenen wiederholt unzureichende Untersuchungen und Behandlungen moniert worden sind, konnten wir im Rahmen unserer Nachforschungen bisher in keinem Fall ein ärztliches Verschulden feststellen. Freilich besagt das nichts Endgültiges, da die dem JVB zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten durchaus begrenzt sind. Insgesamt hängt viel vom Vorgehen der Ärzte ab. Manche wissen mit den Gefangenen und ferner den Vollzugsmitarbeitern sehr geschickt umzugehen, andere ecken eher an und provozieren dann schneller Stirnrunzeln und auch Eingaben …

BJ: Was machen Sie dann?

Walter: Wir wenden uns zuerst an den Anstaltsleiter, er trägt die Verantwortung für das Geschehen in „seiner“ JVA.

BJ: Und wenn der Gefangene das nicht will?

Walter: Ich muss, um unser Vorgehen besser verständlich zu machen, chronologisch vorgehen: Wenn uns ein Gefangener schreibt, besprechen wir zuerst in der Gruppe, ob und gegebenenfalls inwieweit wir uns um das Anliegen kümmern wollen. Wenn wir den Eindruck haben, dass wichtige oder sogar strukturell verbesserungsbedürftige Punkte angesprochen werden (zu denen Arzt-Angelegenheiten eigentlich immer gehören), klären wir als nächstes, wie eilig die Sache ist. Ist sie dringlich, weil zum Beispiel ein Gefangener mitteilt, er bekomme als Diabetiker kein Insulin, rufe ich oder eine Mitarbeiterin sofort bei der Anstaltsleitung an. Ist der Fall hingegen nicht so eilig, teilen wir dem Gefangenen mit, welche Fragen wir aufgreifen und wie er ansonsten weiter verfahren kann. Zugleich übersenden wir ihm – oder ihr – einen Vordruck für eine datenschutzrechtliche Einverständniserklärung. Erst nachdem diese uns vorliegt, erfährt die Anstaltsleitung (von Eilfällen abgesehen) den Namen des Gefangenen. Den Anstaltsleiter bitten wir dann um Stellungnahme. Der wendet sich in aller Regel  an die konkret involvierten Bediensteten.

Die Reaktionen sind von JVA zu JVA und von Fall zu Fall recht verschieden. Nicht selten wird mitgeteilt, dass die Probleme inzwischen geregelt seien, dass beispielsweise der Gefangene zu einer Untersuchung in das Vollzugskrankenhaus in Fröndenberg oder in einer externen Fachklinik verbracht worden sei. Oder wir erfahren, ein bestimmter Verdacht, z.B. auf einen malignen Tumor, sei inzwischen ausgeschlossen worden. Mitunter wird mitgeteilt, man habe die Sache mit dem Gefangenen zu dessen Zufriedenheit besprochen, der Streit sei beigelegt. Des Weiteren gibt es nicht wenige Fälle, in denen sich nach der Stellungnahme der JVA der Sachverhalt deutlich anders darstellt. Dann werden meist Rückfragen beim Gefangenen erforderlich. Schließlich gibt es Fälle, in denen die JVA ein Entgegenkommen ablehnt und dafür Gründe nennt.

BJ: Kontrollieren Sie nach oder geben Sie sich mit der Auskunft zufrieden?

Walter: Das kommt darauf an. Wenn sich zum Beispiel jemand darüber beschwert, dass es in seiner Zelle zu kalt sei, und daraufhin die JVA kundtut, der Gefangene sei nunmehr in einen geschützteren Haftraum in einem Neubau verlegt worden, vertraue ich auf die Auskunft. Nicht selten bietet sich eine kurze Information des Gefangenen an, die mehr oder minder deutlich um Nachricht bittet, falls doch nichts geschehen sei. Uns ist auch wichtig, die Autorität der JVA zu wahren. Wir vermeiden alles, was auf eine wie auch immer geartete Herabsetzung von Vollzugsmitarbeitern hinauslaufen oder Gefangene in dieser Richtung ermuntern könnte. Andererseits ist die Stellung des JVB streng neutral, er „gehört“ nicht zum Vollzug oder zum JM und muss das deutlich machen. Bei der Entscheidung, ob eine nachträgliche Vergewisserung nötig erscheint oder nicht, gibt letztlich oft das „Bauchgefühl“ den Ausschlag. Mir erscheint es nicht sinnvoll, mit ständigem Misstrauen eine Atmosphäre zu schaffen, in der dann gemeinsame Anstrengungen, zu Verbesserungen zu kommen, unmöglich werden.

BJ: Ihr Vorgänger hat wohl viele Sprechstunden in den Anstalten angeboten, weil die Gefangenen sich besser mündlich als schriftlich äußern können. Wie ist das bei ihnen?

Walter: Mit diesem Vorgehen, durch einen beim Ombudsmann beschäftigten AVD-Bediensteten in bestimmten Vollzugsanstalten häufiger präsent zu sein, habe ich mich in meinem Tätigkeitsbericht des Näheren auseinandergesetzt. Hier dazu nur soviel: Gerade auch nach der Lektüre des betreffenden Erfahrungsberichts überzeugt mich dieser Ansatz nicht so sehr. Er macht(e) zwar den Ombudsmann bekannt(er), brachte aber darüber hinaus keinen erstrebenswerten Ertrag. Im Übrigen hat der, der seine Eingabe mündlich vorbringen will, kaum die Geduld, auf diese Gelegenheit wochen- oder gar monatelang zu warten.

Für Kontakte gibt es die Trias aus Anstaltsbesuchen, Eingaben und Berufsgruppengesprächen in den Räumlichkeiten des JVB, zum Beispiel mit Psychologen, Lehrern oder Mitarbeitern des AVD. Auf allen drei Kanälen entwickeln sich Gespräche mit Vollzugsexperten und – teilweise – mit „Sonstigen“. Allein von Bediensteten des Aufsichts- und Werkdienstes kamen über 60 Eingaben, diese waren also keine Seltenheit. Hier fanden in der überwiegenden Zahl der Fälle mündliche, oft recht lange, Gespräche statt. Es ging um Fragen der Dienstgestaltung, der Beförderung, der Regelung dienstlicher Konflikte u.a.m. Zu den Sonstigen sind neben Ehrenamtlichen insbesondere Angehörige und Partner Inhaftierter zu zählen, die sich für die betreffenden Gefangenen einsetzen und oft eine E-Mail Verbindung wählen.

BJ: Halten Sie denn bei den Anstaltsbesuchen eine Sprechstunde ab? Oder besuchen Sie nur den Chef?

Walter: Allein den Chef haben wir – wir sind für gewöhnlich zu zweit – noch nie besucht. Bei regulären Besuchen gehören immer die leitenden Beamten, die Abteilungsleiter, die Fachdienste, der Personalrat, die Gefangenenmitverantwortung (GMV) und nicht zuletzt der Anstaltsbeirat dazu. Manche Mitarbeiter, etwa die Ärzte, lernt man häufig beim Rundgang durch die JVA auf ihrer Station kennen.  Erfolgt ein Anstaltsbesuch im Rahmen eines Projekts, etwa der opferbezogenen Vollzugsgestaltung, sind die Gesprächspartner natürlich spezifische, mit der betreffenden Thematik befasste.

Die Gespräche mit den Gefangenen bergen besondere Probleme, weil wir nicht genau wissen, wer unter welchen Rahmenbedingungen vorgelassen wird. Die Verfahrensweisen sind auch nicht in allen Anstalten gleich. Offensichtlich wird es nicht immer gern gesehen, wenn ein Gefangener den JVB sprechen möchte. Wir sind sogar schon von Gefangenen gebeten worden, einen eingeleiteten Kontakt wieder abzubrechen, weil die Repressalien seitens einzelner Bediensteter zu heftig seien. Das ist natürlich ein Leuchtsignal ersten Ranges. Versuche, dem nachzugehen, waren schwierig und bisher nicht von Erfolg gekrönt.

Nach diesen Erfahrungen suchen wir verstärkt den Kontakt zur institutionalisierten GMV. Sie kann sich eher zu Worte melden als ein einzelner Gefangener. Als erstes setze ich mich dafür ein, dass eine funktionierende GMV eingerichtet wird.

BJ: Gibt es die nicht überall?

Walter: Nein. Nach wohl verbreiteter Ansicht lässt der § 160 StVollzG, der die GMV betrifft, in dem Sinne lesen, dass die dort eingeräumte Gestaltungsfreiheit auch die Freiheit mitumfasse, auf eine GMV zu verzichten. Verwiesen wird auf Kurzstrafgefangene, für die sich eine GMV nicht eigne. Man kann das Problem jedoch besser lösen, indem man die Gefangenen, die sich sinnvoll an der Vollzugsgestaltung beteiligen möchten, mitarbeiten lässt und entsprechend ermutigt, ohne sie durch umständliche Prozeduren abzuschrecken. Für die Gefangenen ist das Vorbringen von Wünschen und Forderungen leichter, wenn zumindest eine kleine Gruppe besteht, die Halt gibt und stabilisiert. Einzelne Gefangene wirken im persönlichen Gespräch oft verloren, einer unangreifbaren Übermacht ausgeliefert.

Um keine Hoffnungen zu wecken, die anschließend nicht erfüllt werden können, bemühe ich mich um einen offenen und zielstrebigen Umgang. Die Gefangenen erfahren, welche der vorgetragenen Anliegen aufgegriffen werden können und was konkret unternommen wird. Zugleich kommt, soweit möglich, eine erste Einschätzung der Folgen. Mein Eindruck ist, dass dieser Stil akzeptiert wird. Persönlich habe ich außerdem das Gefühl, dass bereits das Erleben, beim Gegenüber innere Teilnahme und Offenheit anzutreffen, positive Wirkungen hat.

BJ: Wie funktioniert das eigentlich mit Gefangenen, die des Deutschen nicht mächtig sind?

Walter: Viele werden den JVB nicht erreichen, weil sie sich die Kommunikation nicht zutrauen. Insoweit bestehen vermutlich beträchtliche Lücken. Dabei kommt es auf das „richtige Deutsch“ im Grunde nicht an. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gefangene – zum Beispiel aus Osteuropa – mit erheblichen sprachlichen Defiziten dennoch sehr gut ihr Anliegen zum Ausdruck bringen konnten, wohingegen andere  den Leser nach tadellosen seitenlangen Ausführungen recht ratlos zurückließen, einfach weil trotz wiederholten Lesens nicht recht klar wurde, wo denn nun der Schuh drückt.

BJ: Bekommen Sie manchmal fremdsprachige Zuschriften? Oder kommt das gar nicht erst vor?

Walter: Praktisch nicht. Vereinzelt schreiben Gefangene für einen Mithäftling. Dann versuchen wir, mit dem Betroffenen direkt in Kontakt zu treten. Schwierig wird es selbst bei der Verwendung der deutschen Sprache, falls uns ein Gefangener mitteilt, er könne uns sein Anliegen nur mündlich vortragen. Dann kommt es letztlich darauf an, wann der nächste Besuchstermin in der betreffenden JVA stattfindet.

BJ: Für welche Anstalten sind Sie überhaupt zuständig? Auch Maßregelvollzug?

Walter: Für alle 37 selbständigen Justizvollzugsanstalten des Landes, einschließlich der Sicherungsverwahrung, nicht indessen für den psychiatrischen Maßregelvollzug.

BJ: Gibt es etwas Ähnliches wie den Justizvollzugsbeauftragten auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Belgien, wovon wir eben sprachen?

Walter: Es kommt darauf an, was wir als „ähnlich“ ansehen. Das Modell des Ombudsmannes stammt aus Skandinavien. England hat neben dem Ombudsmann speziell für seine Haftanstalten ein „Inspectorate of Prisons“. Zu Recht machen Sie auf Belgien aufmerksam, das seit 2003 auf diesem Gebiet aktiv ist.  Doch die Modelle weisen erhebliche Unterschiede und Eigenheiten auf. Manche Einrichtungen betonen sehr stark die Kontrollfunktionen, die ja bei uns gerade die Anti-Folter-Kommission wahrgenommen hat.

BJ: …….allerdings war die in NRW mal gerade in der JVA Werl und in einer Maßregelvollzugsanstalt, also in 2 von 37, hat also längst nicht Ihren Überblick….

Walter: Das ist richtig. Natürlich gucken auch wir bei unseren Besuchen genau hin. Wir haben uns die Kontrollliste der Anti-Folter-Kommission geben lassen und prüfen auch Punkte, die dort als sensibel betrachtet werden, zum Beispiel sogen. „gesicherte Hafträume“. Wir halten uns nicht unbedingt an das vorgegebene Besuchsprogramm, sondern äußern spontan „vor Ort“ auch andere Besichtigungswünsche. Nur: Selbst durch solche Vorgehensweisen wird man nicht überall hinkommen. Betonen möchte ich außerdem, dass sich ein rigider Kontrollstil nicht mit dem Anliegen verträgt, gemeinsam mit der Praxis Schwachstellen zu erkennen und Lösungen zu entwickeln. Im Übrigen können viele Missstände gar nicht durch Besichtigungen und Kontrollen aufgedeckt werden. Hier helfen die Eingaben eher weiter.

Die Eingabe aus einer Jugendvollzugsanstalt hat die Problematik des gegenwärtigen „Disziplinarwesens“ deutlich gemacht. Disziplinarverfahren sollen strafähnlich gestaltet werden, faire „kleine Strafverfahren“ sein. Doch die Realität sieht anders aus. Man betrachtet sie in der Vollzugspraxis mitunter als eine Art „erzieherischer Maßnahme“. Aber auch diese Funktion können sie nicht erfüllen. Sie sind lediglich ein probates Mittel, um mit staatlicher Gewalt schnell Ruhe zu schaffen, dienen der Disziplinierung. Wo aber bleibt bei alledem der viel gepriesene erzieherische Ansatz? Hier sind schöpferische Alternativen gefragt. Wir versuchen inzwischen gemeinsam mit den Beteiligten und pädagogischen Experten die problematischen Sachverhaltskonstellationen zu analysieren und andere Formen des Umgangs zu entwickeln. Deeskalation, Konsens-orientierte Verfahren bis hin zu Formen der Mediation kommen in Betracht.

BJ: Mediation setzt ja annähernde Gleichgewichtigkeit der Medianten voraus. Das im Vollzug herzustellen, stelle ich mir schwierig vor.

Walter: In der Tat ist das ein schwieriger Brocken. Aber zu den Leidtragenden gehören ebenso die Bediensteten, sie sind ebenfalls verletzbar. Neuralgische Punkte bilden Beleidigungen und Kränkungen – auf beiden Seiten. Die Probleme betreffen zudem nicht nur das Bediensteten – Gefangenen – Verhältnis, ebenso die Beziehungen innerhalb beider Gruppen.

BJ: Ich könnte mir auch eine Konfliktlotsen-Ausbildung im Jugendvollzug vorstellen.

Walter: Welche Verfahrensweisen die besten sind, muss sich in einem Prozess herausstellen, in den es einzutreten gilt und der mit der nötigen Veränderungsbereitschaft in Gang gesetzt werden sollte. Ich habe jedenfalls wenig Zweifel, dass alte Punktesysteme mit Pluspunkten für „richtiges“ und Minuspunkten für „falsches“ Verhalten der komplexen Lage nicht gerecht werden, insbesondere nicht über den Vollzug fortwirken.

BJ: Was sind denn Ihre Visionen, die Sie gerne verwirklicht sehen möchten?

Walter: Meine Grundidee besteht darin, aus den Beschwerden und der Kritik, die „die“ vielfältige Praxis hervorbringt, qualitative Verbesserungen zu entwickeln, und zwar nicht gegen, sondern zusammen mit den Beteiligten, in einem Prozess, in dem diese sich nicht primär zu verteidigen brauchen und entsprechend verschließen, vielmehr in erlebter gegenseitiger Achtung und Anerkennung zusammenarbeiten. Felder, auf denen das geschehen kann, sind u.a., wie schon erwähnt, die opferbezogene Vollzugsgestaltung und der entdisziplinierte „erzieherische“ Jugendvollzug. Er könnte erneut zum „Vorreiter“ werden, indem zeitgemäße Kommunikationsformen Einzug halten. Der JVB arbeitet dabei komplementär, setzt an den Stellen die nötigen Akzente, die das JM aus sich heraus nicht  erreicht.

BJ: Gibt es denn ähnliche Institutionen wie den Justizvollzugsbeauftragten hier in Nordrhein-Westfalen in anderen Bundesländern?

Walter: Meines Wissens nicht. Es gibt jedoch Interesse an der hiesigen Arbeit. Die Idee, die unsere frühere Ministerin Müller-Piepenkötter und mein Vorgänger, Herr Söhnchen, hatten, nach Siegburg einen Ombudsmann zu installieren, war eine fällige und gute. Ich denke nur, dass man sie weiterdenken und nicht in einer Vielzahl kleiner Anliegen und Punkte ertränken sollte. Immer wieder wird es nötig, den Blick auf größere Zusammenhänge zu richten.

BJ: Gehen Sie nun als Wissenschaftler anders an die Einzelfälle heran als Ihr Vorgänger, der vorher Schöffenrichter war?

Walter: Ihre Frage legt das nahe, und ich vermute es auch. Jeder hat seine Zugangswege. Herr Söhnchen war geprägt von seinen umfänglichen richterlichen Erfahrungen, wohingegen ich mich vielleicht eher an dem orientiere, was ich aus Kontakten mit den unterschiedlichsten Praktikern und aus kriminologischen Studien weiß oder kriminologisch-kriminalpolitischer Lehre entnehmen zu können glaube. Die verbreitete Auffassung, Wissenschaftler seien  weltfremde Theoretiker, möchte ich für mich nicht gelten lassen. Sie ist jedenfalls insofern selbst weltfremd, als sie die Situation der praxisorientierten Forschung nicht kennt oder nicht berücksichtigt. Denn gerade auf dem Weg über entsprechende Forschungsprojekte kann man Praxisstrukturen durchleuchten und verstehen.

BJ: Gibt es noch etwas, das Sie gerne in diesem Gespräch transportieren möchten?

Walter: Toll fände ich es, wenn sich der Ansatz, den wir hier in NRW verfolgen, als ein Teil unserer Rechtskultur verfestigen würden: die Bereitschaft, unser vollzugliches Handeln aus einer gewissen Distanz heraus begucken zu lassen und Anregungen zu diskutieren und aufzugreifen, um den Umgang mit Gefangenen besser zu gestalten.

Das Gespräch führte Andrea Kaminski am 5. April 2012 in Köln, siehe auch http://www.betrifftjustiz.de/ Link