AAV: Wie kam es nach Ihren Kenntnissen zur Einrichtung des Amtes des Justizvollzugsbeauftragten? Ist die Schaffung dieser Funktion auf die öffentliche Berichterstattung von Missständen im Strafvollzug z.B. auch in Aachen zurückzuführen?

Das Amt des Justizvollzugsbeauftragten ist aus der Tätigkeit des vorherigen Ombudsmannes entstanden. Der Justizvollzugsbeauftragte hat dessen Aufgaben übernommen, ist ebenfalls Ansprechpartner für alle am Vollzugsgeschehen Beteiligten, hat außerdem aber die zusätzliche Funktion, den Justizminister bei der Planung und Fortentwicklung des Vollzuges zu beraten. Der Ombudsmann war seiner Zeit eine Antwort auf den Foltermord im Siegburger Jugendgefängnis im Jahre 2006.

AAV: Ist der Standort Ihres neuen Büros gegenüber der größten Haftanstalt in NRW zufällig gewählt worden?

Es kommt nicht so sehr auf die Größenordnungen an, vielmehr darauf, den unmittelbaren Kontakt mit der Praxis zu haben. Köln-Ossendorf ist von seinen baulichen Voraussetzungen her kein Mustergefängnis, jedoch eine Einrichtung, in der sich viele Probleme des geschlossenen Vollzuges spiegeln und tagtäglich bewältigt werden müssen. Ich habe bereits wiederholt den kurzen Weg nutzen können, um mir in Einzelfragen rasch die nötige konkrete Anschauung zu verschaffen. Freilich macht das den kontinuierlichen Besuch in den anderen 36 Haftanstalten des Landes in keiner Weise entbehrlich. Denn die jeweils inhaftierten Gefangenen und die örtlichen Gegebenheiten sind teilweise höchst unterschiedlich. Der Reiz des Kölner Standorts reduziert sich im Übrigen nicht auf das dortige Gefängnis. Hier finden sich u.a. nahezu alle einschlägigen Behörden und Kooperationspartner, vom Kriminologischen Institut der Universität über das Täter-Opfer-Servicebüro bis hin zum Oberlandesgericht.

AAV: Für welche Art von Anliegen sind Sie zuständig und welche werden in der Praxis an Sie gerichtet?

Geregelt ist die Zuständigkeit in einer Allgemeinen Verfügung (AV) des Justizministeriums. Darin wird auf „Eingaben“ abgehoben, die alle vom nordrhein-westfälischen Justizvollzug Betroffenen an den Justizvollzugsbeauftragten richten können. Eingaben sind – der Legaldefinition folgend – „Beschwerden, Anregungen, Beobachtungen und Hinweise“. Und alles kommt auch in der Praxis vor: Gefangene klagen beispielsweise darüber, dass der Arzt sie als Simulanten verdächtige und ihre Beschwerden nicht ernst nehme, dass der Einkauf unbefriedigend geregelt sei, aber auch dass sie nicht in eine andere Anstalt verlegt werden, wo sie leichter und häufiger besucht werden könnten. Bedienstete fühlen sich ungerecht behandelt, nicht hinreichend anerkannt oder gar gemobbt oder sie haben Probleme mit der Dienstwohnung. Angehörige sorgen sich um die Gesundheit von Gefangenen u.s.f. Ich könnte Ihnen eine lange Liste zusammenstellen. Die meisten Eingaben stammen von Gefangenen. Doch kommt es nicht entscheidend auf die Zahl an, sondern darauf, was sich hinter einem Schreiben oder einem mündlichen Vorbringen verbirgt. Da kann auch ein einzelner Hinweis, zum Beispiel auf die Praxis der Disziplinarmaßnahmen, sehr hilfreich sein.

AAV: Nachdem Sie auch mit Beratungsaufgaben betraut sind, nach welchen Auswahlkriterien gehen Sie in der Bearbeitung von Einzelfällen vor?

Schon der Ombudsmann besaß die Freiheit, sich lediglich mit den Eingaben zu befassen, deren Bearbeitung er für sinnvoll hielt. In der Tat darf man sich nicht verzetteln und sollte nicht auf Feldern tätig werden, für die andere berufen sind. Meine Maxime lautet, dass sich meine MitarbeiterInnen und ich um einen einzelnen Fall umso intensiver kümmern, je mehr er existentielle Fragen oder Fragestellungen betrifft, die einen allgemeineren strukturellen Hintergrund erkennen lassen. Andererseits verweisen wir bei einzelnen Rechtsfragen auf das informelle Gespräch mit den Anstaltsbediensteten und dann gegebenenfalls auf das gerichtliche Antragsverfahren, wobei zugleich die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe empfohlen wird. Um es deutlicher zu machen: Wenn eine Frau Sorgen hat, ihr Gehirntumor werde nicht schnell genug behandelt, telefoniere ich noch am gleichen Tage, wenn sich ein Gefangener über Drogenkontrollen beschwert, geht es um eine Problematik die nicht selten über den Einzelfall hinausweist und schnell den Justizvollzugsbeauftragten interessiert. Wenn hingegen beklagt wird, aus der Habe sei ein wertvolles Elektrogerät verschwunden, sind eher andere gefragt, nicht zuletzt der Anstaltsbeirat, der die örtlichen Verhältnisse kennt und zu entkrampfenden informellen Erledigungen beitragen kann. Für notwendige rechtliche Klärungen, ob beispielsweise die Verweigerung eines Langzeitbesuchs rechtswidrig ist, sind die Gerichte da. Jede Eingabe wird bei uns in der Runde kurz besprochen, im Falle einer Nichtbefassung bemühen wir uns, den Absendern Hinweise zu geben, wie sie ihr Anliegen weiterverfolgen können.

AAV: Ihre Aufgabe besteht darin, Empfehlungen auszusprechen. Wie ziehen Sie Schlussfolgerungen bzw. wie gehen Sie in der Erfassung vor? Werden Statistiken erstellt und wenn ja mit welchen Bezügen?

Bei der Bearbeitung von Einzeleingaben ergeben sich Fragen, die klärungsbedürftig erscheinen und dann Überlegungen in Gang setzen, wie die Materie besser geregelt werden könnte. Ein Beispiel: Ein Gefangener des Jugendvollzuges berichtet, er sei wegen einer körperlichen Auseinandersetzung disziplinarisch bestraft worden, obwohl er gar nicht „angefangen“ habe. Trotz bestrittenen Sachverhalts wird von der JVA  aus Gründen von „Sicherheit und Ordnung“ gleichsam eine „Strafe in der Strafe“ vollstreckt. Die ebenfalls eingereichte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft führt dann erst später zu einer gerichtlichen Klärung. Warum hier diese Reihenfolge, wenn es bei Beamten aus guten Gründen in der umgekehrten Reihenfolge geht und zunächst das Strafverfahren abgewartet wird? Hat der Jugendvollzug keine erzieherischen Mittel, um mit derartigen Situationen fertig zu werden? Ich stelle mich nicht als Besserwisser hin, sehr wohl aber nerve ich mit unbequemen Fragen. Die Sache wird weiterverfolgt, und zwar nicht „gegen“ den Vollzug, sondern in einer Arbeitsrunde mit dem Vollzug. Am Ende werden Einschätzungen und Beurteilungen stehen, im Idealfall übereinstimmende.

Statistiken stellen wir für die nähere Erfassung der  Eingaben und Anstaltsbesuche auf, sonst gibt es die Kooperation, nicht zuletzt mit dem Kriminologischen Dienst des Landes. Auf entsprechende Angaben habe ich schon für das höchst sinnvolle Vorhaben des Justizministers hingewiesen, die Ersatzfreiheitsstrafe zurückzudrängen. Wir müssen im Ergebnis wissen, was im Detail mit welchen Strategien wirklich erreicht worden ist – oder erreichbar erscheint.

AAV: Die Unabhängigkeit des Justizvollzugsbeauftragten und seine Befugnisse sind in einem neuen Statut festgeschrieben. Wie weit reichen Ihre Befugnisse? Können Sie auch im Einzelfall intervenieren?

Die Unabhängigkeit ist ein hohes Gut, das es mir ermöglicht, meine Einsichten aus der jahrelangen Arbeit an der Universität an die Praxis heranzutragen, nicht als Bedrohung, vielmehr als Angebot zum besseren und tieferen Verstehen von Zusammenhängen. Ich brauche keine Anweisungen zu befolgen, werde im Gegenteil an der Entwicklung einer vernünftigen Vollzugspolitik beteiligt. Das gilt für die Erarbeitung der Leitlinien für den NRW-Vollzug ebenso wie für die Konzeption neuer Gesetze.

Ein besonderes Anliegen ist mir die „opferbezogene Vollzugsgestaltung“. Wenn wir zu Recht die Resozialisierung des Täters fordern, dürfen wir auf  der anderen Seite das Opfer nicht vernachlässigen. Unfruchtbar und sogar schädlich sind freilich Versuche, Opferaspekte gegen den Täter zu wenden und in eine Konfrontation zu geraten. Überzeugend ist demgegenüber eine integrative Sicht, die Wiedergutmachungsgesichtspunkte ebenso umfasst wie den konkreten Opferschutz. Beides muss in das Vollzugsgeschehen „hineingedacht“ werden, beginnend mit der Vollzugsplanung und endend mit dem sogenannten „Übergangsmanagement“ (früher: Entlassungsvorbereitung und Nachsorge). Wir haben hier einen Arbeitsschwerpunkt gebildet und einen Beirat gewonnen, der uns die einzelnen relevanten Vollzugs- und Lebensbereiche öffnen soll.

Der Justizvollzugsbeauftragte hat keine Handhabe, um in einen Einzelfall regelnd einzugreifen. Das ist gut so, denn dafür sind gegebenenfalls die Aufsichtsbehörde und die Gerichte da. Das Handwerkszeug des Justizvollzugsbeauftragten ist letztlich die Sprache, mit der er sich Gehör verschaffen und überzeugen kann. Wichtig ist natürlich das Gespräch mit der „Hausspitze“ des Justizministeriums, insoweit ist das Gehör sogar in der bereits erwähnten AV als Rechtsanspruch formuliert.

Gegenwärtig erlebe ich die Arbeit als anregend und weiterführend. Wie man das Ganze aus der rückblickenden Distanz einmal beurteilen wird, lässt sich im jetzigen Zeitpunkt freilich noch nicht sagen. Aus meiner Sicht ist schon der Umstand, dass es eine solche Instanz unabhängig von der administrativen Hierarchie gibt, ein gutes Zeichen für unsere ausdifferenzierte und auf Balance achtende Rechtskultur.