Gefangene nicht "abschreiben"

Die rot-grüne Landesregierung hat Rechtsprofessor Michael Walter zum ersten Justiz­vollzugs­beauftragten NRWs ernannt. Er soll die Bedingungen in den Gefängnissen des Landes verbessern. WDR.de sprach mit ihm über seine zukünftigen Aufgaben.

Jura-Professor Michael Walter war zuletzt Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln. Seit Sommer 2009 ist er emeritiert. Er ist parteilos. Ab 1. Januar 2011 soll er als unabhängiger Ansprechpartner für die Mitarbeiter des Justizvollzugs auftreten. Damit ersetzt der 66-jährige den bisherigen Gefängnis-Ombudsmann Rolf Söhnchen. Die neue Stelle des Justizvollzugsbeauftragten wurde als Reaktion auf Missstände in der NRW-Justiz geschaffen, um die Bedingungen in den Gefängnissen zu verbessern. Walter soll aber mehr Kompetenzen als Söhnchen haben: So kann er künftig NRW-Gefängnisse unangekündigt betreten und jederzeit Auskünfte verlangen. Seine Untersuchungen soll er jedes Jahr dem Rechtsausschuss vorstellen.

WDR.de: Herr Walter, die frühere Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) wäre wegen der vielen Justizpannen fast zu Fall gekommen. Sind Sie der Prellbock, mit dem sich die rot-grüne Landesregierung nun die Probleme im Justizvollzug vom Hals halten möchte?

Walter: Nein, das wäre eine Zumutung, aber keine Aufgabe für mich. Mein Auftrag besteht vielmehr darin, die hinter vielen Einzelproblemen liegenden Strukturen zu untersuchen und mit den Beteiligten Ver­besserungs­möglich­keiten zu entwickeln und vorzuschlagen.

WDR.de: Sie haben über den Justizvollzug geforscht. Wie nah sind Sie denn an den praktischen Problemen dran?

Walter: Von den aktuellen Zuständen werde ich mir jeweils vor Ort ein Bild machen. Gefängnisse haben mich in gewisser Weise ein ganzes Leben lang begleitet. Ich habe Vollzugsanstalten in Deutschland und im europäischen Ausland kennen gelernt. Ich war schon als Referendar im Justizvollzug tätig. Aus Forschungsprojekten, Lehr- und gelegentlicher anwaltlicher Tätigkeit haben sich im Laufe der Jahre nicht wenige Einblicke und Praxiskontakte ergeben.

WDR.de: Wo fangen Sie mit der Arbeit an?

Walter: Zunächst einmal habe ich vor, mit Menschen zu sprechen, ihnen vor allem zuzuhören. Erst danach lässt sich sagen, wo Arbeitsschwerpunkte liegen werden. Um das geplante Vorgehen etwas zu veranschaulichen: Wird beispielsweise über vermehrte Übergriffe gegenüber Bediensteten berichtet, gilt es, die Situation herauszufinden, in denen diese Ereignisse geschehen.

Anschließend fragt sich, was getan werden kann, um Wiederholungen zu vermeiden. Das Spektrum ist breit. Es schließt beispielsweise auch die Ausbildung mit ein. Vielleicht ist es gelegentlich sinnvoller, einige Vorschriften weniger auswendig zu wissen, dafür aber über mehr Kompetenzen zu verfügen, wie man besser und wirkungsvoller mit heiklen Konfliksituationen umgeht.

WDR.de: Die Vollzugsbediensteten fordern immer wieder mehr Personal. Doch die Kassen sind leer. Was ist zu tun?

Walter: Zu wenig Personal kann zu Überforderungen von Mitarbeitern führen. Doch scheint mir die These, dass alle Probleme beseitigt wären, wenn es nur genug Personal gäbe, zu einfach. Die Schwierigkeiten sind komplexer. Sie beruhen teilweise auch auf der Führung einer Einrichtung. So erreichen manche Anstalten einen hohen Krankenstand, während in anderen Gefängnissen bei vergleichbaren Bedingungen die Belastungen von den Mitarbeitern als erträglich erlebt werden.

WDR.de: Die Bediensteten warten ungeduldig darauf, dass Probleme angepackt werden. Gibt es einen Zeitplan?

Walter: Die erste Bestandsaufnahme muss abgewartet, anschließend kann der Zeitplan festgelegt werden. Schnellschüsse helfen nicht wirklich weiter.

WDR.de: Eines der drängensten Problemeist der hohe Krankenstand in den Haftanstalten. Gibt es dafür eine Lösung?

Walter: Ein hoher Krankenstand ist stets ein Warnsignal, das Aufklärung verlangt. Krankmeldungen können daran liegen, dass Bedienstete ihre Arbeitsbedingungen als nicht mehr erträglich empfinden. Irgendwann sagen sie und ihr Körper: bis hierher und nicht weiter - ich kann nicht mehr. Dann muss sorgfältig geklärt werden, warum so viele überfordert sind. Gibt es nur Schwierigkeiten unter bestimmten Kollegen oder ist letztlich das gesamte Anstaltsklima betroffen? Falls dem so ist, ergeben sich Fragen an die Anstaltsleitung.

WDR.de: Schnelle Lösungen muss es aber offensichtlich dennoch geben. Die Vollzugsbediensteten sagen schließlich, dass die Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft nicht mehr so gewährleistet ist wie früher. Es könne nur noch verwahrt und weggeschlossen werden.

Walter: Wir wissen inzwischen viel mehr als in früheren Zeiten, welcher Umgang mit Gefangenen angezeigt ist und wie wir dazu beitragen können, den Rückfall zu vermeiden. Ich werde mich nachdrücklich dafür einsetzen, dass wir die Resozialisierung verbessern. Dafür ist in der Tat die Mitwirkung aller am Vollzug Beteiligten notwendig, insbesondere auch die des Aufsichtsdienstes. Es geht insoweit nicht um einige Behandlungsspezialisten. Die Forderung, genügend Zeit für die einzelnen Gefangenen zu haben, ist aus meiner Sicht berechtigt.

WDR.de: Sie sind als Kritiker härterer Strafen bekannt. Könnte am Ende Ihrer Amtszeit vielleicht die Forderung stehen, den Vollzug völlig neu zu gestalten?

Walter: Dass Gefängnisse nie eine ideale Lösung darstellen, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Die Bemühungen, bessere Alternativen zu entwickeln, nicht zuletzt im Bereich der Schadenswiedergutmachung und der Arbeitsverpflichtungen, dürfen nicht abreißen. Fundamentalistische Forderungen, die Gefängnisse gänzlich abzuschaffen, werden uns aber nicht weiterhelfen. Es gibt nach wie vor Menschen, bei denen die Inhaftierung schlicht unausweichlich erscheint. Das Gefängnis ist ultima ratio, das letzte Mittel. Das heißt aber nicht, dass wir die betreffenden Menschen "abschreiben" dürfen. Der Vollzug ist vielmehr in der Pflicht, unter den fraglos schwierigen Bedingungen nach Wegen zu suchen, die nicht zum sozialen Ausschluss, sondern zur sozialen Integration führen.